Autoritarismus
Es ist eine der zentralen Errungenschaften moderner Staatlichkeit, dass politische Macht durch Verfahren legitimiert wird. Wahlen, Parlamente, Gerichte, Pressefreiheit – all dies sind Elemente eines institutionellen Rahmens, der der politischen Herrschaft zumindest einen Anschein von Legitimität verleiht. Doch was geschieht, wenn gerade diese Verfahren zur Waffe gegen den politischen Gegner werden? Wenn sie nicht mehr der Sicherung von Freiheit und Pluralismus dienen, sondern der gezielten Ausschaltung missliebiger Akteure – und das unter dem Deckmantel des Rechts und der Demokratie?
Man stelle sich folgenden abstrakten Fall vor: Eine politische Machtgruppe verfügt über staatliche Institutionen. Um den demokratischen Anschein zu wahren, werden Wahlen abgehalten – doch gleichzeitig werden gezielt Verdachtsnarrative gegen politische Gegner in Umlauf gebracht. Diese Narrative beruhen auf vagen, unbewiesenen oder längst bekannten Informationen, werden jedoch medial und institutionell dramatisiert, um Zweifel an der Integrität der Gegenseite zu säen. Ziel ist es, dem politischen Gegner die demokratische Legitimation abzusprechen. Der politische Prozess wird formal eingehalten, materiell jedoch systematisch manipuliert.
Dieses abstrakte Szenario ist keine dystopische Spekulation. Es ist inzwischen ein wiederkehrendes Muster. Drei nicht ganz abstrakte Beispiele mögen das verdeutlichen.
- Ein afrikanischer Autokrat inszeniert freie Wahlen, doch um sicherzustellen, dass sein Wunschkandidat die Wahl gewinnt, verbreitet er über eine staatliche Polizeieinheit und regimetreue Medien gezielte Lügen und Verleumdungen über den Oppositionsführer. Nach der Wahl, die der Oppositionsführer trotz aller Manipulationen gewinnt, wird deren Gültigkeit in Zweifel gezogen – mit Verweis auf ebenjene falschen Anschuldigungen. Die Demokratie war gespielt, die Kontrolle blieb in den Händen des alten Regimes.
- In einem westlichen Leitland der Demokratie lanciert der amtierende Präsident über nationale Sicherheitsbehörden das Gerücht, eine fremde Macht – Russland – nehme Einfluss auf die laufende Wahl, um seine bevorzugte Kandidatin zu schützen. Als diese verliert, wird das Narrativ nicht etwa korrigiert, obwohl interne Berichte dies nahelegen, sondern zum Instrument einer nachträglichen Delegitimierung des siegreichen Gegners umgewandelt. Erst Jahre später gelingt der Nachweis der Mitwirkung Obamas an der Kampagne. Die Demokratie bleibt intakt – jedoch nur in ihren äußeren Formen.
- In einem europäischen Rechtsstaat verliert eine Regierungspartei die Wahl. Kurz vor der Amtsübergabe veröffentlicht ihre Innenministerin einen Bericht, der eine demokratisch gewählte Oppositionspartei als „gesichert rechtsextrem“ einstuft. Die Informationen im Bericht sind nicht neu, sondern Gegenstand offener Gerichtsverfahren. Doch der Zeitpunkt der Veröffentlichung und die mediale Begleitmusik zielen auf ein anderes Ergebnis: die Festschreibung einer politischen Bewertung durch administrative Akte – jenseits richterlicher Klärung. Es entsteht der Eindruck: Der politische Gegner wird nicht im Parlament geschlagen, sondern durch Behördenberichte erledigt.
Drei Fälle, drei politische Systeme, ein gemeinsames Muster. In allen drei Fällen wird ein demokratisches Verfahren eingesetzt, aber so gesteuert, dass der Eindruck politischer Kontrolle gewahrt bleibt. Demokratisch soll es aussehen – aber man will die Kontrolle behalten.
Dieser Satz stammt nicht etwa aus einem dystopischen Roman, sondern von Walter Ulbricht, dem SED-Chef der DDR. Er sagte im Jahr 1945: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten.“ Dieser Satz war lange das Kennzeichen autoritärer Systeme, die ihre Macht durch eine Fassade von Wahlen und Rechtsstaatlichkeit legitimierten, während sie in Wahrheit nichts als ihre eigene Herrschaft sicherten.
Heute aber, im Westen des 21. Jahrhunderts, scheint genau dieser Satz wieder zum heimlichen Leitmotiv geworden zu sein – nicht durch Gewalt, sondern durch die schleichende Umcodierung der Institutionen. Nicht mehr der offene Bruch des Rechts macht autoritäre Strukturen kenntlich, sondern ihre Verkleidung im Gewand demokratischer Verfahren. Der Unterschied zur Diktatur besteht nur noch in der Ästhetik.
Die größte Bedrohung für die Demokratie ist nicht mehr der offene Putsch, sondern das subtile Gift des legalistischen Autoritarismus: eine Herrschaft, die alle Formen achtet, aber ihren Geist nicht nur übergeht, sondern verrät. Eine Herrschaft, die das Vertrauen in die Institutionen nicht dadurch zerstört, dass sie sie abschafft, sondern dadurch, dass sie sie in Funktionsträger einer politischen Gesinnung verwandelt.
Man kann also nicht oft genug daran erinnern: Demokratie ist mehr als ein Verfahren. Sie ist ein Ethos. Und wer ihre Institutionen zu Instrumenten der Macht umfunktioniert, auch wenn er das im Namen einer angeblichen „guten Sache“ tut, verlässt das Terrain der Verfassungsstaatlichkeit. Der Rechtsstaat lebt nicht davon, dass die Richtigen herrschen. Sondern davon, dass niemand über dem Verfahren steht.