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Bonae voluntatis

Die gegenwärtigen Kriege stellen die Frage nach dem gerechten Krieg in besonders scharfer Form. Worin unterscheiden sich eigentlich die Kämpfe zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine und zwischen Israel und der Hamas, beziehungsweise den von ihr beherrschten Gaza-Streifen? Es scheint nahezu Einigkeit zu herrschen, dass die kriegerische Gegenwehr der Ukraine gegen Russland, oder eher gegen Putin als Person, ohne Zweifel gerechtfertigt sei. Die Entschiedenheit und auf einen endgültigen Sieg gerichtete Entschlossenheit Israels, gegen die Hamas kriegerisch und unerbittlich vorzugehen, gilt den Pazifisten jedoch als offenbar bedingungslos verwerflich. Diese doppelte Maßstabsbildung macht deutlich, wie schwer sich viele tun, den Gedanken des gerechten Krieges im Lichte der christlichen Tradition konsequent zu durchdenken.

Die Engelbotschaft des Lukasevangeliums ist seit Jahrhunderten in der Liturgie präsent: Gloria in altissimis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Viel ist über diese Worte gesagt worden, doch oft überhört man ihren eigentlichen Kern. Sie sprechen nämlich nicht von den Menschen „des rechten Glaubens“, nicht von denen, die ein bestimmtes Bekenntnis ablegen, sondern von den Menschen „guten Willens“. Der Friede, den Gott verheißt, ist also nicht exklusiv an eine Glaubensgemeinschaft gebunden, sondern er wird denen zugesagt, deren Wille dem Guten zugewandt ist.

Das ist keine sprachliche Nebensächlichkeit. Der Evangelist hätte ohne Weiteres andere Worte wählen können. Er hätte von hominibus bonae fidei sprechen können, von den Menschen des wahren Glaubens. Er hätte sagen können credentibus, den Glaubenden. Beides wäre theologisch eindeutig gewesen und hätte den Kreis der Begünstigten streng gezogen. Doch die Vulgata spricht von bona voluntas. Der Schlüssel liegt also nicht im Bekenntnis, sondern in der Haltung: gutwillig muss der Mensch sein, offen für Zuwendung, bereit zum Frieden.

Daraus folgt: Die Friedensverheißung umfasst nicht nur Christen. Sie gilt auch dem Fremden, dem Andersgläubigen, ja selbst dem Atheisten, sofern er guten Willens ist. Gottes Friede ist damit universal, er schließt niemanden aus, solange er auf Frieden hinarbeitet. Und ebenso klar ist die Kehrseite: Wer böswillig ist, wer den Frieden zerstören will, ist von der Verheißung nicht umfasst. Der bloße Umstand, dass einer Christ ist, bewahrt ihn nicht davor, durch seinen bösen Willen aus dem Bereich der Friedensbotschaft herauszufallen.

Gerade an diesem Punkt erweist sich die eingangs aufgeworfene Differenz zwischen den gegenwärtigen Kriegen als aufschlussreich. Es fällt ungleich schwerer, die generelle Gutwilligkeit Russlands oder Putins so in Abrede zu stellen, dass der Krieg aus fundamentalen Gründen verwerflich wäre. Denn die von Putin selbst formulierten Kriegsmotive bestehen jedenfalls auch darin, den russischen Minderheiten in der Ukraine beizustehen – ein Aspekt, der in der westlichen Debatte häufig ignoriert wird, der aber im Ansatz geeignet erscheint, als gutwillig bezeichnet zu werden, sofern er tatsächlich auf den Schutz von Minderheiten zielt. Sehr viel leichter hingegen ist es, den guten Willen nicht nur der Hamas, die eine monströse Terror- und Mörderarmee darstellt, sondern auch der seit Jahrzehnten aggressiv antisemitisch auftretenden, überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung im Gaza-Streifen im Sinne der Friedensbotschaft der Vulgata gänzlich zu verneinen. Hier wird deutlich: Wo kein guter Wille vorhanden ist, da greift die Verheißung des Friedens nicht, und dort kann die entschlossene Gewaltanwendung zur Verteidigung des Friedens für die Gutwilligen gerechtfertigt sein.

Damit gewinnt die alte Formel eine politische Schärfe. Denn wenn der Friede den Gutwilligen zugesagt ist, dann bedeutet dies auch, dass es eine Pflicht zum Schutz dieser Gutwilligen gibt. Friede ist keine abstrakte Idee, die unterschiedslos allen gilt. Friede ist eine Gabe, die an eine Haltung geknüpft ist – und darum ist es Aufgabe derer, die ihn bewahren wollen, den Böswilligen entgegenzutreten. Wo der böswillige Mensch Gewalt übt, Hass sät oder den Frieden zerschlägt, da genügt es nicht, die Friedensbotschaft passiv zu zitieren. Da entsteht vielmehr die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Widerstands.

An dieser Stelle tritt der Gedanke des gerechten Krieges hervor. Nicht als romantische Verklärung des Krieges, sondern als logische Konsequenz: Wer den Frieden den Gutwilligen zusagt, muss auch bereit sein, diesen Frieden gegen die Böswilligen zu verteidigen. Der Krieg ist nicht das Ziel, sondern das äußerste Mittel, um die Friedensverheißung für die Gutwilligen zu bewahren. So verstanden, steht der gerechte Krieg nicht im Gegensatz zum christlichen Frieden, sondern wird zu dessen dienendem Werkzeug. Augustinus hat dies klar gesehen, wenn er sagt: justa autem bella definiri solent, quae ulciscuntur iniurias – gerecht sind jene Kriege, die ein erlittenes Unrecht vergelten. Und noch schärfer formuliert er: et ipse bellorum finis est pax – selbst das Ziel der Kriege ist der Friede.

So zeigt sich, dass die Vulgataformel nicht die naive Beschwörung einer allgemeinen Harmonie ist, sondern eine präzise Unterscheidung trifft. Nicht die richtigen Worte des Glaubensbekenntnisses zählen, sondern der gute Wille. Und gerade darin liegt die politische Pointe: Gott verheißt den Frieden nicht exklusiv der eigenen Gemeinschaft, sondern allen Gutwilligen. Doch wer sich dem Guten verweigert, dem gilt die Verheißung nicht – und gegen ihn kann auch der Krieg gerecht sein. Der gerechte Krieg ist dann nicht Bruch, sondern Vollzug der Friedensbotschaft: Er sichert den Frieden den Menschen guten Willens.

Und daraus folgt auch, dass die beiden Kriege, welche die Weltöffentlichkeit nahezu ausschließlich beschäftigen, von fundamental unterschiedlicher Natur sind. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nach den vorstehenden Erwägungen sehr viel komplexer in der Beurteilung. Er lässt sich weder eindeutig als gerechter Krieg noch als völlig ungerechter Krieg einordnen, da er Elemente enthält, die im Sinne der Friedensbotschaft als gutwillig gedeutet werden können, zugleich aber auch von imperialen Zielen überschattet sind. Ganz anders hingegen erscheint der Krieg Israels gegen die Hamas und den Gaza-Streifen: Er stellt sich geradezu als Reinform des gerechten Krieges dar. Die entschlossene Bekämpfung einer Terrororganisation, die in sich nichts Gutwilliges trägt, und einer Bevölkerung, die weithin eine böswillige, antisemitische Haltung verinnerlicht hat, entspricht dem Schutzauftrag, den die Friedensbotschaft den Gutwilligen zusichert. Dass dabei zivile Opfer zu beklagen sind, ist eine tragische, aber unvermeidliche Folge jedes Krieges. Doch die im Vergleich zu nahezu allen anderen Konflikten der Weltgeschichte außerordentlich geringe Zahl dieser Opfer kann nicht dazu herangezogen werden, den Krieg am Maßstab übersteigerter Pazifismusforderungen als verwerflich zu brandmarken. Jedenfalls ist eine Gegenposition, die Israel die Legitimität seines Kampfes abspricht, selbst vollkommen illegitim.

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