Das geistige Projekt der Moderne – und sein postmodernes Gegenbild
Das geistige Projekt der Moderne ist kein Elitenprojekt intellektueller Selbstverwirklichung.
Sein innerer Impuls entspringt nicht der Überhöhung weniger Auserwählter, sondern der Anerkennung der geistigen und praktischen Würde eines jeden Menschen.
Es ist eine Entfesselung des menschlichen Geistes, der in den Jahrhunderten davor – durch ständische, religiöse und autoritäre Strukturen – weitgehend verkümmert oder unterdrückt war.
Philosophiegeschichtlich wurzelt dieser Gedanke tief in der Aufklärung: bei Kant, der die „Selbstverschuldung der Unmündigkeit“ beklagte und den Menschen aufrief, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen; bei Rousseau, der die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Freiheit und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückte; bei John Stuart Mill, der die freie Entfaltung der Individualität als oberstes Gut moderner Gesellschaften verteidigte.
Die demokratischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts – die amerikanische, die französische, später die europäischen Bewegungen – standen in diesem Licht: Sie wollten keine neue aristokratische Elite errichten, sondern den Raum öffnen, in dem jede Stimme, jedes Urteil, jede Fähigkeit zählt.
Das Versprechen der Moderne war nicht, dass einige wenige die Menschheit erleuchten, sondern dass alle Menschen fähig sind, sich selbst und ihre Welt vernünftig zu gestalten.
Doch dieses Projekt steht im scharfen Gegensatz zu bestimmten Strömungen der postmodernen Sozialphilosophie.
Diese begreift die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht primär als Räume individueller Entfaltung, sondern als durchgängig autoritär strukturierte Systeme von Macht und Unterdrückung.
Wahrheit wird hier weniger als eine gemeinschaftlich zu erringende Annäherung an die Wirklichkeit verstanden, sondern als Ausdruck hegemonialer Machtinteressen.
Der Mensch erscheint in diesen Denkmodellen nicht mehr als freies, schöpferisches Subjekt, sondern als Produkt, ja Opfer sozialer Diskurse, die seine Perspektiven und Möglichkeiten bestimmen.
Was die Moderne als Ziel hatte – die Emanzipation des individuellen Geistes aus Unfreiheit –, wird in der postmodernen Sichtweise gewissermaßen unterlaufen:
Nicht Befähigung und Anerkennung der Urteilskraft des Einzelnen stehen im Zentrum, sondern Misstrauen gegenüber jeglichem Anspruch auf Wahrheit und Freiheit, die als subtile Instrumente der Herrschaft interpretiert werden.
So tritt an die Stelle des Respekts vor dem Einzelnen die Vorstellung seiner strukturellen Ohnmacht.
An die Stelle der Ermutigung zur Selbsttätigkeit tritt die Diagnose der permanenten Unterdrückung.
Die Moderne gründete auf Vertrauen in die vernünftige Kraft des Menschen.
Die Postmoderne lebt vom Misstrauen gegenüber allen Formen von Vernunft, Wahrheit und individueller Autonomie.
Wer das geistige Projekt der Moderne ernst nimmt, muss daher unterscheiden:
zwischen einer Welt, die darauf baut, dass Menschen ihre eigenen Fähigkeiten entfalten können – und einer Welt, die sie auf ewig als Gefangene unsichtbarer Machtstrukturen begreift.
Das eigentliche Versprechen der Moderne bleibt bestehen:
dass jeder Mensch in der Lage ist, sich in Freiheit und Vernunft eine eigene Welt zu erschließen – und dass diese Fähigkeit weder Eliten noch Diskursen, sondern dem Einzelnen selbst gehört.