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Deliberation ohne Deliberation – Zur Krise der Demokratie

1. Begriffliche Entleerung der Lager

Die politischen Koordinaten „links“ und „rechts“ sind ihrer inhaltlichen Substanz entleert. Wer sich „links“ nennt, bleibt die Definition schuldig, was dieses Attribut heute noch bedeutet; „rechts“ wird zur reinen Negativkategorie, die lediglich das „Nicht-Linke“ bezeichnet. Damit verwandeln sich die Begriffe in Marker ohne programmatische Orientierung.

Habermas würde hierin eine Erosion der „kommunikativen Rationalität“ erkennen: Die Sprache verliert ihren Gehalt als Medium gegenseitigen Verstehens und wird zum bloßen Instrument der Abgrenzung.¹ Luhmann wiederum würde dies als Funktionslogik des politischen Systems beschreiben, das sich auf Differenzen stützt, ohne dass die Semantik noch an Inhalte gebunden wäre.²

2. Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung

Das „rechte Lager“ beansprucht für sich, konservative Vernunft zu repräsentieren: das Bewährte zu bewahren, das Gescheiterte zu verwerfen, aus der Geschichte des friedlichen Westens Lehren zu ziehen. Auf der „linken Seite“ ist dagegen ein Rückzug von inhaltlichen Gegenentwürfen zu beobachten. Statt Utopien oder eigene Konzepte zu entwickeln, konzentriert man sich auf die Delegitimierung des Anderen. Diskurs wird durch moralische Abwertung ersetzt.

Hier zeigt sich eine Nähe zur Mouffe’schen Diagnose: Sie betont, dass Politik notwendig agonistisch sei – ein Austrag von Gegensätzen zwischen realen Gegnern, nicht die reine Konsenssuche.³ Doch was Mouffe als produktiven Konflikt beschreibt, kippt in der gegenwärtigen Situation in ein asymmetrisches Verhältnis: Ein Lager entzieht sich der argumentativen Arena und erklärt die Gegenseite als illegitim. So wird Agonismus in Antagonismus verwandelt.

3. Folgen für die Demokratie

Die deliberative Demokratietheorie – prominent durch Habermas entwickelt – setzt darauf, dass sich im Diskurs das bessere Argument durchsetzt.⁴ Alternativ gibt es die Vorstellung, deliberative Prozesse dienten primär der Kompromissbildung. Doch beide Varianten setzen voraus, dass beide Seiten Argumente formulieren und wechselseitig anhören. Bricht eine Seite diese Bedingung auf, kollabiert das Modell.

Die Folge: An die Stelle deliberativer Legitimität tritt ein Machtkampf um Deutungshoheit. Luhmann würde dies als „Verlust der Selbstreferenzialität“ des politischen Systems beschreiben: An die Stelle des argumentativen Codes „richtig/falsch“ tritt der politische Code „Macht/Ohnmacht“.⁵ Habermas wiederum würde sagen, dass die „herrschaftsfreie Kommunikation“ blockiert ist und damit die Legitimationsquelle der Demokratie versiegt.

Hier eröffnet sich ein Anschluss an Carl Schmitt: Für ihn ist das „Politische“ ohnehin nicht durch Verständigung, sondern durch das Gegenüber von „Freund und Feind“ bestimmt.⁶ Der Bruch des Diskurses bestätigt gewissermaßen Schmitts These: Wo Verständigung nicht mehr gesucht wird, tritt die existentielle Lagerbildung offen hervor. Während Habermas auf die Möglichkeit rationaler Verständigung setzt, konstatiert Schmitt die Unhintergehbarkeit des Feindschaftskriteriums.

4. Ausblick: Die Notwendigkeit staatlicher Neutralität

Wie also weiter? Die Demokratie ist in ihrer deliberativen Form an ihr Ende geraten, wenn eine Seite den Diskurs verweigert. Während das rechte Lager den Streit sucht, blockiert das linke Lager ihn. Ein erster Schritt zur Lösung liegt darin, den Staat aus der Rolle des parteilichen Meinungsträgers zu befreien.

Denn sobald staatliche Institutionen selbst Meinungsbildung initiieren, wirken sie mit Autorität und setzen unzulässige normative Rahmungen. Das verstärkt die Spaltung, weil staatliche Macht mit inhaltlichen Positionen verschmilzt. Luhmann würde hier von einer „Überdehnung der Funktionssysteme“ sprechen: Das politische System greift in das kommunikative System der Öffentlichkeit ein und stört dessen Eigenlogik.⁷

Notwendig ist daher eine vorbehaltlose Rückkehr zur Neutralitätspflicht des Staates. Politische Willensbildung darf nur in einer Richtung verlaufen: aus der Gesellschaft heraus, durch offene Diskurse, in das Rechtssystem hinein. Der Staat hat diese Ergebnisse umzusetzen, nicht vorwegzunehmen.

Erst wenn ein solcher neutraler Staat verlässlich wiederhergestellt ist, kann die Demokratie eine neue Diskursfähigkeit gewinnen. Dann wird auch das „linke Lager“ nicht länger durch institutionelle Macht gedeckt sein, sondern muss sich wieder mit Argumenten behaupten. Hier liegt auch eine Pointe gegenüber Mouffe: Ein echter Agonismus ist nur möglich, wenn beide Seiten als legitime Gegner anerkannt sind und die Auseinandersetzung mit Argumenten führen. Ein entmachteter, zur Neutralität verpflichteter Staat schafft die Bedingung, dass Agonismus wieder in Diskurs zurückgeführt wird. Und gegenüber Schmitt könnte man sagen: Auch wenn das Politische in der Feindschaft wurzelt, muss die demokratische Ordnung versuchen, diese Feindschaft in regelgeleitete Auseinandersetzung zu überführen.

 

Literaturhinweise

1 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981.

2 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000.

3 Chantal Mouffe, On the Political, London 2005.

4 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992.

5 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984.

6 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963.

7 Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1988.

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