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Der demokratische Betrieb und das Ende der Substanz

I. Die sakrale Rhetorik der Macht

In der modernen Republik ist die Berufung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum zentralen Ritual der Herrschaftslegitimation geworden. Kein Regierender, kein Meinungsträger, kein Parteifunktionär kann sich diesem Ritus entziehen, ohne sozial exkommuniziert zu werden. „Unsere Demokratie“ – diese Formel ist längst zur Besitzanzeige geworden: Sie bezeichnet nicht ein offenes Gemeinwesen, sondern ein Territorium, das von bestimmten politischen und medialen Zirkeln beansprucht und bewacht wird.

Die Rede von Demokratie und Rechtsstaat erfüllt dabei eine sakrale Funktion. Sie errichtet Tabuzonen, in denen Kritik als Blasphemie gilt. Wer an die Grundsätze rührt, wird nicht widerlegt, sondern ausgeschlossen. Die sakralisierte Demokratie ist das Gegenteil einer deliberativen: Sie kennt keine Häretiker, sondern nur Feinde der Ordnung.

Diese sakrale Form der Sprache ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer strategischen Kommunikationspolitik. Sie dient nicht der Verteidigung des Rechtsstaats, sondern der Immunisierung der Macht. Der moralische Diskurs wird zur Schutzmauer gegen das Politische.

II. Demokratie als Herrschaftstechnik

Demokratie ist in ihrer gegenwärtigen Gestalt weniger ein Verfahren der Volkssouveränität als eine Technik der Machterhaltung geworden. Die Rituale der Wahlen, der Talkshows, der Empörung und der symbolischen „Beteiligung“ erzeugen die Illusion von Mitwirkung, während die Entscheidungsprozesse längst in geschlossenen Räumen, zwischen Fraktionen, Parteigremien, Lobbyorganisationen und Mediennetzwerken und natürlich sog. NGOs stattfinden.

Was sich als demokratischer Diskurs präsentiert, ist häufig eine Inszenierung des Dissenses: eine dramaturgische Spannung, die das Publikum in Bewegung hält, ohne dass sich die Machtverhältnisse verändern. Der Streit wird zum Bestandteil des Systems – aber nur in Grenzen, die von den Beteiligten selbst gezogen werden.

Luhmann hätte von einer „Autopoiesis der Legitimation“ gesprochen: Das System erzeugt Legitimation aus sich selbst, indem es über Demokratie spricht. Doch im Unterschied zu Luhmanns neutraler Systembeschreibung ist hier der entscheidende Punkt: Dieses System wird bewusst gesteuert. Es lebt nicht bloß von Selbstreferenz, sondern von strategischer Manipulation.
Die Führungskreise der dominanten Parteien haben gelernt, den demokratischen Diskurs zu instrumentalisieren – nicht, um Stabilität zu sichern, sondern um den eigenen Machtblock zu perpetuieren. Ihre Loyalität gilt nicht dem Staat, sondern dem Zugriff auf seine Ressourcen.

III. Die Architektur der Ablenkung

Die moderne politische Öffentlichkeit gleicht einem hyperaktiven Bühnenapparat, dessen Aufgabe darin besteht, Bewegung zu simulieren, um Stillstand zu verbergen. Themen werden gesetzt, Empörungszyklen inszeniert, moralische Konflikte gezüchtet – stets in sicherem Abstand zu den realen Machtachsen.

Die Ablenkung folgt einer präzisen dramaturgischen Logik:
- Man lenkt den Diskurs auf Fragen der Identität, Sprache und Moral,
- man emotionalisiert Nebenschauplätze,
- man produziert permanent Affekte, um rationale Kritik zu übertönen.

So wird die Gesellschaft in ständiger Erregung gehalten – aber ohne Richtung, ohne Ziel, ohne Machtperspektive. Demokratie verwandelt sich in eine Theaterform des Konsenses.

Diese bewusste Steuerung dient dazu, die entscheidenden Konflikte unsichtbar zu machen: Fragen der Souveränität, der Verteilung, der Energieabhängigkeit, der ökonomischen Zukunftsfähigkeit, der Bevölkerungspolitik. All dies wird aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, weil es zu gefährlich wäre – nicht für den Staat, sondern für die in ihm herrschenden Gruppen.
Die herrschenden Funktionseliten haben in den letzten Jahrzehnten nachdrücklich bewiesen, dass sie infolge einer tiefgreifenden politischen Inkompetenz zur echten Systemsanierung weder willens noch fähig sind. Inmitten wachsender Krisensymptome erkennen sie zunehmend selbst, dass ihre Instrumente, Konzepte und Denkmuster erschöpft sind. Der Versuch, die strukturellen Probleme der Bundesrepublik – in Verwaltung, Wirtschaft, Energie, Bildung und Demographie – auch nur in die richtige Richtung zu bewegen, scheitert regelmäßig an ihrer eigenen Selbstbezogenheit. Damit tritt offen zutage, dass die politische Klasse nicht mehr die Zukunft des Gemeinwesens gestaltet, sondern deren Erosion verwaltet.


IV. Die mediale Klerikalisierung des Diskurses

Die Medien, die einst als Treuhänder des politischen Diskurses den öffentlichen Raum kontrollieren sollten, sind zu Priesterschaften der Gesinnung geworden. Sie predigen nicht Aufklärung, sondern Orthodoxie. Wer sich außerhalb der zugelassenen Moralgrammatik bewegt, verliert Legitimität, Sichtbarkeit, Existenz.

Diese Mechanik funktioniert nach dem Prinzip des modernen Inquisitionsstaats: nicht durch physische Gewalt, sondern durch sozialen Ausschluss. Plattformen, Redaktionen, Kulturinstitutionen reproduzieren die gleichen semantischen Muster. Das Ergebnis ist eine moralisch uniformierte Öffentlichkeit, in der die Simulation des Pluralismus die Homogenität der Gesinnung kaschiert.

Die Herrschaft der Kommunikation ersetzt die Herrschaft der Idee. Damit verwandelt sich der demokratische Raum in ein System der symbolischen Kontrolle – das, was Foucault die „Mikrophysik der Macht“ nannte.

 

V. Der Selbstbetrug der Wohlstandsgeneration

Die Träger dieser Ordnung sind nicht nur Politiker, sondern eine soziokulturelle Klasse: jene Generation, die aus dem Nachkriegswohlstand und der geopolitischen Stabilität Europas hervorgegangen ist. Ihre Macht beruht auf der Verwaltung des Erreichten. Sie fürchtet Veränderung, weil sie den Verlust ihrer Position bedeutet.

Deshalb wird der politische Betrieb zu einem Reproduktionsmechanismus des Status quo. In den Ministerien, Parteizentralen und Redaktionen sitzen Menschen, deren existenzielle Sicherheit an der Fortsetzung des Bekannten hängt. Für sie ist Demokratie kein Experiment, sondern Besitzstandswahrung.

Das erklärt auch, warum die strukturellen Krisen – soziale Marktwirtschaft, Energie, Demographie, Bildung, Migration – zwar ständig beschworen, aber nie gelöst werden: Sie sind zu riskant für eine Klasse, deren zentrales Motiv die Angst vor Machtverlust ist.


VI. Das Versagen der Substanz

So ist die Bundesrepublik zu einem System des simulierten Fortschritts geworden: Man modernisiert die Symbole, aber nicht die Strukturen. Man reformiert die Sprache, aber nicht das Denken. Man spricht von Inklusion, Diversität, Gerechtigkeit – und verschweigt die Erosion der realen Lebensgrundlagen.

In dieser Kluft zwischen Rhetorik und Wirklichkeit entsteht die eigentliche politische Krise. Sie ist keine Krise der Demokratie, sondern ihrer Simulation. Der Rechtsstaat bleibt als Form bestehen, aber seine moralische Energie erschöpft sich im Selbstlob.

Die Demokratie ist in dieser Spätphase nicht gefährdet durch zu viel Konflikt, sondern durch zu wenig Wahrheit. Sie zerfällt an der eigenen Inszenierung.


VII. Die Gegenwehr des Souveräns

Doch kein Herrschaftssystem bleibt ewig immun. Wenn die strukturellen Lügen zu groß, die Widersprüche zu sichtbar, der Wohlstand zu brüchig und die Freiheitsräume zu eng geworden sind, erwacht der Souverän – das Staatsvolk selbst.

Diese Gegenwehr ist kein revolutionäres Pathos, sondern ein republikanischer Selbsterhaltungsinstinkt. Die Bürger, die die Lasten des Systems tragen, beginnen zu spüren, dass sie nicht mehr nur Zuschauer, sondern Opfer einer politischen Simulation sind.

Die Erosion des Wohlstands, die Auflösung sozialer Sicherheiten, die Gängelung durch Bürokratie und Gesinnungszwang führen zu einem Moment der Erkenntnis: dass Demokratie ohne reale Partizipation, ohne Kontrolle der Macht, ohne Wahrheit, nichts als ein sprachliches Artefakt ist.

Dann erst wird Politik wieder möglich. Nicht als Phrasenbetrieb, sondern als Wiederaneignung der Souveränität durch das Volk – im Sinne einer neuen, nicht simulierten Republik, die nicht vom Glauben an Begriffe lebt, sondern von der Tat der Selbstregierung.


VIII. Epilog – Nach der Täuschung

Am Ende wird die Frage nicht sein, ob die alte Ordnung zusammenbricht, sondern wie bewusst sie ihren eigenen Untergang verwaltet. Die Herrschenden werden noch versuchen, das Scheitern als Erfolg der Stabilität zu verkaufen. Doch sobald die Fassade der moralischen Überlegenheit reißt, verliert auch die sakrale Sprache ihre Macht.

Dann wird sichtbar, dass Demokratie und Rechtsstaat nur so stark sind, wie die Menschen, die sie mit Sinn erfüllen – nicht die, die sie als Banner vor sich hertragen. Die Wiedergeburt des Politischen wird aus der Erkenntnis entstehen, dass Freiheit kein Ritual ist, sondern ein Risiko.



Fußnoten:
1. Niklas Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981.
2. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967.
3. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976.
4. Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique, Paris 1835/1840.
5. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992.

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