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Der Parteienstaat und das Bundesverfassungsgericht

Im demokratischen Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, wie ihn das Grundgesetz anlegt, ist das Ideal der Gewaltenteilung in seiner klassischen Form mit einer weitreichenden Eigenständigkeit der staatlichen Gewalten verbunden. Dieses Ideal stößt jedoch an die Realität eines seit Jahrzehnten etablierten Parteienstaats, der zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen ist, sich aber im Laufe der Nachkriegsgeschichte als faktisches Herrschaftsmodell herausgebildet hat und seit dem Erstarken einer unwillkommenen neuen Partei zunehmend zur Kenntlichkeit entstellt wird. In diesem System haben die politischen Parteien nicht nur die Legislative und Exekutive durchdrungen, sondern auch starken Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Judikative – insbesondere des Bundesverfassungsgerichts – erlangt.

Diese parteienstaatliche Struktur ist demokratietheoretisch hochproblematisch. Sie beruht auf einem sensiblen Gleichgewicht zwischen parteipolitischer Einflussnahme und institutioneller Zurückhaltung. In der Vergangenheit ist es den sogenannten Altparteien – also den etablierten Kräften in Bundestag und Bundesrat – gelungen, dieses Gleichgewicht so zu steuern, dass der Schein der Unabhängigkeit gewahrt blieb, während zugleich die parteipolitische Kontrolle der obersten Gerichte erhalten blieb. Das Bundesverfassungsgericht fungierte in diesem Arrangement als neutralisierende Instanz, der man institutionelle Würde und fachliche Exzellenz zutraute, ohne dass diese Rolle eine Gefahr für die parteipolitische Logik des Gesamtsystems bedeutete.

Zunehmend aber zeigt sich, dass diese Balance aus dem Lot gerät. Der parteienstaatliche Konsens bröckelt, vor allem auf Seiten der linken Parteien. Während man sich früher noch um eine gewisse Zurückhaltung bemühte, scheint heute die Bereitschaft zu schwinden, die über Jahrzehnte entwickelten Regeln dieser informellen Machtarchitektur zu respektieren und statt dessen die Machtfrage zu stellen. Das betrifft nicht nur die Besetzungsmechanismen, sondern auch das Selbstverständnis der Kandidaten für höchste Staatsämter.

Ein markantes Beispiel für diese Entwicklung zeigt sich in der öffentlichen Positionierung der offenbar immer noch aktuellen Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Professorin Brosius-Gersdorf. Ihre juristischen Beiträge und politischen Stellungnahmen legen nahe, dass sie sich nicht mehr dem traditionellen Zurückhaltungsgebot verpflichtet fühlt, das für Richterinnen und Richter am höchsten deutschen Gericht als selbstverständlicher Ausdruck richterlicher Neutralität galt. Auch wenn solche Positionierungen nicht unmittelbar gegen formale Kriterien verstoßen, werfen sie doch Fragen nach dem Rollenverständnis von Verfassungsrichterinnen auf – insbesondere dann, wenn die Übergänge zwischen juristischer Argumentation und politischem Aktivismus fließend werden.

In einem System, das ohnehin durch parteipolitische Dominanz geprägt ist, wird die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht durch Gesetze garantiert, sondern durch ein kollektives Bewusstsein der Zurückhaltung und Selbstbegrenzung. Wenn dieses Bewusstsein verloren geht – auf Seiten der Parteien wie auf Seiten der Kandidierenden –, verliert die Institution an ihrer besonderen Autorität. Das ist nicht nur ein symbolischer Verlust, sondern ein tiefer Einschnitt in das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik.

Ein Verfassungsgericht lebt nicht nur von klugen Köpfen, sondern von der Fähigkeit seiner Mitglieder, über den Parteien zu stehen – auch und gerade dann, wenn sie durch diese Parteien berufen werden. Wer aber die politische Bühne mit der richterlichen verwechselt, verwischt die Grenzen zwischen Urteil und Meinung. Und wer diese Unterscheidung nicht mehr hochhält, gefährdet das letzte Wort, das dem Gericht in unserem System zusteht. Die zunehmende Politisierung richterlicher Kandidaturen spiegelt den Zerfall eines stillschweigenden Grundkonsenses – und stellt die Legitimität des Verfassungsgerichts genauso vor eine ernste Bewährungsprobe, wie den demokratischen Rechtsstaat.

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