Gedenken ohne Geschichte
Was derzeit zur Vorbereitung des 80. Jahrestags der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus bekannt wird, lässt aufhorchen: Repräsentanten Russlands und Belarus’ sollen 2025 nicht zu den offiziellen Gedenkfeierlichkeiten eingeladen werden.
Diese Entscheidung mag im politischen Kontext der Gegenwart begründet sein – doch sie entfaltet eine Wirkung weit über das Feld der Diplomatie hinaus. Sie ist nicht in erster Linie eine Maßnahme gegen Regierungen. Sie trifft Menschen. Völker. Familien. Sie trifft jene, die in diesem Krieg ihr Zuhause, ihre Angehörigen, ihre Zukunft verloren haben – und die bis heute mit dem Schrecken leben, der ihnen durch deutsche Gewalt angetan wurde.
Wer sich entschließt, diese Völker aus der kollektiven Erinnerung an das Ende des Krieges auszuschließen, verweigert ihnen nicht nur die Anerkennung ihres Leids. Er spricht ihnen auch die Würde ab, Teil jener Geschichte zu sein, die Europa vom Abgrund zurückführte.
Dabei ist die historische Tatsache unmissverständlich: Die Rote Armee, getragen von Millionen Männern und Frauen der damaligen Sowjetunion – darunter Russen, Weißrussen, Ukrainer – hat entscheidend zur Zerschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft und zum Ende des massenmörderischen Zivilisationsbruches beigetragen. Ohne diesen Beitrag wäre Auschwitz nicht befreit worden. Ohne ihn hätte es kein Ende des weltweiten Schreckens gegeben.
Was 1945 folgte, war alles andere als selbstverständlich: Es entstand – trotz unvorstellbarer Verwundungen – ein vorsichtiges, tastendes, aber echtes Band der Versöhnung zwischen den Völkern Deutschlands und jenen der Sowjetunion. Dieses Band war nicht politisch verordnet, sondern menschlich errungen – getragen von gegenseitigem Respekt und der gemeinsamen Erkenntnis, dass Erinnerung mehr sein muss als Rückblick: nämlich Verantwortung.
Diese Verantwortung droht nun verspielt zu werden. Und zwar durch eine Geste, die – ob bewusst oder nicht – als Brüskierung ganzer Völker wirkt. Nicht ihrer Regierungen. Ihrer Menschen. Und damit genau jener, die bereit waren, die Hand zur Versöhnung zu reichen.
Es ist nicht nur ein moralischer Irrweg, zu glauben, man könne ausgerechnet am Tag der Befreiung trennen zwischen Geschichte und Politik, zwischen Opfern und Nationen. Wer Russland und Belarus – unabhängig von den jeweiligen Machthabern – vom Gedenken ausschließt, stellt sich über die historische Wahrheit. Und riskiert damit, das Andenken an Millionen Tote zu beschädigen. Das ist als politische Symbolik ein Ausdruck moralischer Verdorbenheit.
Es geht hier nicht um Symbolpolitik. Es geht um historische Redlichkeit. Um moralische Integrität. Um das Ethos der Erinnerung.
Eine Erinnerungskultur, die selektiert, was ihr politisch opportun erscheint, ist keine Kultur der Verantwortung mehr. Sie wird zur Pose. Zum Machtinstrument. Und letztlich zur Entwürdigung derer, an die sie zu erinnern vorgibt.
Auch die moralistische Laienspielschar, die weiter in Deutschland Macht ausübt, tritt hier als Erbengemeinschaft des Zivilisationsbruchs auf. Sie hätten beraten und gebremst werden müssen. Der Apparat hätte in diesen Fragen sensibler, klüger, verantwortungsvoller handeln müssen, wozu er offenbar inzwischen nicht mehr in der Lage ist. Sie alle gefährden nicht nur das Verhältnis zu jenen Völkern, die uns einst vergeben haben. Sie delegitimieren das Nachkriegsdeutschland, das durch Generationen verantwortungsbewusst Handelnder ein neues Fundament für das Zusammenleben mit den anderen Völkern Europas errichtet hat.
Gedenken ohne Geschichte und Verantwortung – ist keine Erinnerung. Es ist ein Akt der Verleugnung.