Kulturelle Bilingualität
Zwischen Rückzug und Resonanz
Es gibt Menschen, die der Welt abhanden gekommen sind – und dennoch in ihr leben. Sie stehen morgens auf, nehmen an Gesprächen teil, bewegen sich durch Städte, über Bildschirme, durch die Geschäftigkeit der Zeit – und doch umgibt sie ein unsichtbarer Zwischenraum, ein zarter Schleier aus Distanz. Man erkennt sie daran, dass sie nicht ganz anwesend sind – nicht, weil sie zerstreut wären, sondern weil sie anders zentriert sind.
Der Ausdruck „der Welt abhanden gekommen“ stammt aus einem Gedicht von Friedrich Rückert, vertont von Gustav Mahler, und bezeichnet jene eigentümliche Form von Entfremdung, die keine Verzweiflung ist, sondern eine still errungene Freiheit. Wer der Welt abhanden kommt, der entzieht sich ihr nicht in Bitterkeit, sondern in Würde. Er verliert nicht, er löst sich.
Doch diese Loslösung bedeutet nicht Sprachlosigkeit. Sie kann im Gegenteil eine Form der kulturellen Bilingualität sein – die Fähigkeit, zwei Sprachen zu sprechen, die sich nicht ineinander übersetzen lassen: die Sprache des Rückzugs und die Sprache der Welt.
Hannah Arendt hat dieses Spannungsverhältnis als das Drama zwischen vita contemplativa und vita activa beschrieben – zwischen dem Denken, das in der Einsamkeit wächst, und dem Handeln, das sich in der Öffentlichkeit bewährt. Der moderne Mensch, so Arendt, hat die kontemplative Seite fast verloren: Er spricht unaufhörlich, aber er denkt kaum noch. Die Bilingualität bestünde also darin, die Sprache der Welt nicht zu meiden, aber sie aus der Stille heraus zu sprechen.
Dabei ist die innere Welt nicht bloß ein Rückzugsraum, sondern die notwendige Voraussetzung für die substanzielle Daseinsberechtigung der äußeren. Eine Gesellschaft, in der nur noch jene zu Wort kommen, die keine innere Welt kennen, verliert ihren Sinnhorizont. Sie spricht viel, aber sie sagt nichts mehr. Ohne Kontemplation, ohne die Fähigkeit zur Selbstbegegnung, kann keine Öffentlichkeit Bestand haben. Es gibt, mit Adorno gesprochen, kein richtiges Leben im falschen – und kein wahres Gespräch in einer Öffentlichkeit, deren Teilnehmer keine Tiefe mehr besitzen. Diskurse werden nur dann produktiv, wenn sie auf inneren Räumen gründen, in denen Menschen denken, zweifeln, schweigen und sich selbst befragen.
Nietzsche, der wohl radikalste Diagnostiker dieses Zwiespalts, lässt Zarathustra aus den Bergen hinabsteigen, um „den Menschen“ zu lehren, was er in der Einsamkeit gelernt hat. Der Rückzug ist hier keine Flucht, sondern eine Vorbereitung – ein geistiges Atemholen vor dem Sprechen. Doch Nietzsche wusste auch: Wer zu lange im Lärm der Welt verweilt, verliert den Klang seiner eigenen Stimme.
Rilke wiederum verwandelte diese Doppelbewegung in reine Poesie. Er schuf in seinen „Duineser Elegien“ jenen Weltinnenraum, in dem Außen und Innen nicht mehr getrennt sind, sondern ineinander schwingen. Der Dichter ist dort kein Weltflüchtiger, sondern ein Vermittler – einer, der das Schweigen der Dinge in Sprache verwandelt. Auch das ist Bilingualität: die Welt in sich aufnehmen, um sie verwandelt zurückzugeben.
Und Niklas Luhmann schließlich, kühlster unter den Systemtheoretikern, gab dieser Erfahrung ihre moderne Form: Das Bewusstsein, sagte er, ist ein geschlossenes System, das die Welt nur durch Unterscheidung sehen kann. Auch das ist eine Art Abhandensein – ein struktureller Rückzug in die eigene Ordnung. Doch gerade dieser Abstand ermöglicht Beobachtung, Erkenntnis, Sinn.
So verstanden ist kulturelle Bilingualität kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Sie erlaubt, in der Welt zu sprechen, ohne sich in ihr zu verlieren; zu handeln, ohne die innere Resonanz aufzugeben; zu denken, ohne zu verstummen.
Vielleicht ist das die eigentliche Kunst des modernen Menschen: die Fähigkeit, zugleich in der Welt und ihr abhanden zu sein – mit beiden Sprachen vertraut, ohne eine zu verraten.
Denn wer nur spricht, wird leer. Und wer nur schweigt, wird unhörbar.
Aber wer beides kann, der ist frei.
Meinem Neffen Ernst Mehlmann zum 29. Geburtstag