Politikspiele
Wenn wir heute auf die parteipolitische Debatten in Deutschland blicken, scheinen sie sich seit Jahren in immer engeren Kreisen zu drehen. Fast alles erschöpft sich in parteisoziologischen Überlegungen: Welche Milieus stehen welcher Partei noch nahe? Welche Schichten haben sich abgewandt? Welche Zielgruppen könnte man mit neuen Themen zurückgewinnen? Die Parteienlandschaft wird wie ein Schachbrett betrachtet – und das politische Geschäft reduziert sich auf die Frage, wie man Figuren verschiebt.
Das ist zweifellos nicht ohne Bedeutung. Wahlverhalten ist wichtig, Mehrheiten entscheiden über Macht. Aber diese Fixierung ist gefährlich. Denn sie ersetzt die Auseinandersetzung mit den wirklichen Problemen des Landes. Statt Fragen zu stellen wie: Wie sichern wir den Wohlstand in einer globalisierten Welt? Wie gehen wir mit Migration, Bildungskrise, Energieversorgung, Verteidigungsfähigkeit um? – fragen sich Politiker: Wie gewinnen wir die Mittelschicht zurück, die zur Konkurrenz abgewandert ist? Wie erreichen wir die jungen Wähler, die auf neue Themen reagieren?
Karl Popper hat einmal in einem seiner letzten Aufsätze geschrieben: „Leben ist Problemlösen.“ Diese einfache Wahrheit scheint in der deutschen Politik aus dem Blick geraten zu sein. Heute gilt offenbar: Politik ist Taktik. Politik ist Wählersegmentierung. Politik ist Machtkalkül.
Man kann es tagtäglich beobachten: Die Regierung arbeitet nicht in erster Linie an Lösungen, sondern an Botschaften. Opposition wird nicht verstanden als Korrektiv, das Probleme schärfer benennt, nicht als Instanz zur Entwicklung alternativer Problemlösungen, sondern als Versuch, neue Milieus an sich zu binden. Selbst zentrale Herausforderungen – von der maroden Infrastruktur bis zur demografischen Schieflage – werden nicht mehr als Probleme begriffen, die man lösen müsste, sondern als Hindernisse, die die parteipolitische Selbstdarstellung stören.
Diese Entpolitisierung des Politischen zugunsten von Taktik hat fatale Folgen. Ein Land, dessen Eliten sich vor allem damit beschäftigen, wie sie die nächste Wahl überstehen, verliert den Sinn für die Realität. Probleme verschwinden dadurch nicht, sie wachsen. Wenn aber die öffentliche Diskussion sich fast ausschließlich an Umfragezahlen und Wählerwanderungen ausrichtet, wenn Politik nur noch als Machtspiel inszeniert wird, dann setzt eine gefährliche Erosion ein: Das Vertrauen in die Problemlösungskraft der Demokratie sinkt.
Deutschland steht damit vor einem Paradox: Noch nie wurden so viele Daten, Analysen und Szenarien über Wählergruppen gesammelt, noch nie war Politik so sehr mit sich selbst beschäftigt – und doch wirkt sie ohnmächtig gegenüber den Herausforderungen. Das liegt daran, dass man den Blick verweigert, sobald es konkret wird. Wer nur fragt, wie eine Maßnahme ankommt, fragt nicht mehr, ob sie nötig ist.
So wird das Land weiter ausgehöhlt: durch Verschiebung ins Taktische, durch Ignoranz gegenüber der Realität, durch die Verwechslung von politischem Spiel mit politischem Handeln. Das Ergebnis ist vorhersehbar: schleichender Verfall, verbunden mit wachsender Politikverdrossenheit.
Wenn Popper recht hatte – und vieles spricht dafür –, dann bedeutet Demokratie nicht, Machtspiele zu perfektionieren. Demokratie bedeutet, Probleme zu erkennen, zu benennen und mutig zu lösen. Davon ist das deutsche Parteiensystem weit entfernt.
Es wäre an der Zeit, dass Politik wieder zum Kern zurückkehrt: zur Wirklichkeit. Denn ohne Problemlösung gibt es keine Zukunft. Und ohne Zukunft gibt es auch keinen Wähler, den man noch gewinnen könnte.