Potemkins Demokratie
Ein Potemkin’sches Dorf – so nennt man eine Fassade, die nur zum Schein errichtet wurde. Der Begriff geht zurück auf den russischen Fürsten Grigori Potemkin, dem nachgesagt wird, für Kaiserin Katharina II. bei ihrer Reise durch die neu eroberten Gebiete Dörfer aufgestellt zu haben, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Gebäude, Menschen, Tiere – alles nur Kulisse, um Wohlstand und Fortschritt vorzutäuschen. Ob historisch ganz korrekt oder nicht: Der Begriff ist zum Synonym für Täuschung geworden.
Ein wenig überlebt hat dieser Gedanke im Städtebau: etwa in den Protokollstrecken Ost-Berlins, wo ganze Straßenzüge kosmetisch saniert wurden, um Staatsgästen einen prosperierenden Sozialismus vorzuführen. In Wahrheit war es nichts als ein großflächiges Bühnenbild.
Genau darin liegt der Schlüssel zum Verständnis unserer politischen Kultur: Seit Jahrzehnten sind viele Themen, die von der Linken jenseits der sozialen Gerechtigkeit in die Debatte eingeführt werden, nichts anderes als solche Potemkin’schen Dörfer. Sie wirken aus der Ferne wie gewichtige Anliegen, wie Argumente mit Substanz. Doch wer sich ihnen nähert, merkt schnell: Es sind Fassaden, rhetorische Konstruktionen, glänzende Oberflächen ohne Fundament.
Damit diese Täuschung nicht auffliegt, wird mit bemerkenswerter Energie dafür gesorgt, dass niemand zu nah herankommt. Kritische Stimmen werden nicht eingeladen, genauer hinzusehen, sondern im Gegenteil: Sie werden diffamiert, ausgegrenzt, als Häretiker gebrandmarkt. Wer es wagt, die pittoreske Dorfkulisse als das zu benennen, was sie ist, wird sofort zum Feind erklärt. Nicht das Argument zählt, sondern die Diskreditierung desjenigen, der sich erkühnt hat, eine Frage zu stellen.
Das Ergebnis: eine Debattenkultur, die nicht mehr von Prüfung und Gegenprüfung lebt, sondern von Abschottung und Tabuisierung. Die Fassade wird mit Stacheldraht gesichert, damit niemand ihre Brüchigkeit erkennt.
Was folgt daraus? Vor allem dies: Nach so vielen Jahren der Potemkin’schen Fassaden können wir nicht mehr davon ausgehen, dass diese künstlich bewachten Dörfer überhaupt irgendeine Daseinsberechtigung haben. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die Täuschung zu durchschauen, den Blick auf die Realität freizulegen – und endlich wieder echte Dörfer zu bauen.
Echte Dörfer, das heißt: Politik, die nicht aus symbolischen Konstruktionen besteht, sondern aus konkreten Verbesserungen. Kleinteilig, mühsam, unglamourös – aber wirksam. Investitionen in Schulen und Infrastruktur, Lösungen für Sicherheit, Migration, Demografie und Wirtschaft, die überprüfbar und tragfähig sind.
Das große Missverständnis der letzten Jahrzehnte liegt darin, dass man meinte, die glänzenden Fassaden selbst seien schon Politik. Doch in Wahrheit ist nur das Reale belastbar. Und Reales entsteht nicht durch Schlagworte oder moralische Inszenierung, sondern durch Handwerk, Ausdauer und Verantwortungsbereitschaft.
Die Zeit des reinen Argumentierens mit Fassaden ist vorbei. Wer an der Oberfläche bleibt, trägt zur Verlängerung der Täuschung bei. Die politische Kultur braucht einen Bruch: weg von den Potemkin’schen Dörfern, hin zu wirklichen Bauwerken, die man betreten, prüfen, bewohnen und fortentwickeln kann.
Politik ist keine Bühnenkunst. Sie ist Bauarbeit am Fundament unserer Gesellschaft. Und genau daran müssen wir sie wieder messen.