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Die Bundesrepublik als konservatives Erfolgsprojekt

Wenn man bedenkt, dass im Jahr 2025 die Gründung der Bundesrepublik Deutschland genau 76 Jahre zurückliegt, lohnt ein gedanklicher Zeitsprung: Zurückgerechnet ins Jahr 1873, 76 Jahre vor 1949, gelangt man an den Beginn des deutschen Kaiserreichs – eine Ära, die bis heute für den Auftakt des deutschen Nationalstaats in moderner Form steht. Die Zeitspanne zwischen 1873 und 1949 umfasst nicht weniger als die gewaltsamsten und disruptivsten Etappen deutscher Geschichte: zwei Weltkriege, der Untergang von konstitutioneller Monarchie und parlamentarischer Demokratie, die Barbarei des Nationalsozialismus, Völkermord, Diktatur und totale gesellschaftliche und moralische Desintegration. Erst im Jahr 1949 – nach dieser Kette fundamentaler Umwälzungen – gelingt mit dem Grundgesetz der Neuanfang, der nicht nur verfassungsrechtlich, sondern in seiner ganzen politischen und gesellschaftlichen Wirkweise eine historische Zäsur darstellt.

Gerade diese tiefgreifenden historischen Brüche machen umso deutlicher, welch außerordentliche Leistung die Bundesrepublik in den Jahrzehnten seit 1949 verkörpert: Sie ist – trotz aller politischen, ökonomischen und sozialen Wandlungen – ein Projekt der Kontinuität, der Stabilität und des Rechts geblieben. Der bundesdeutsche Rechtsstaat, mit seinen Gewaltenteilungsprinzipien, seinem föderalen Aufbau, seinen grundrechtlich garantierten Freiheitsräumen und seinen rechtsstaatlichen Sicherungen, steht im Kontrast zu fast allem, was die deutsche Geschichte zwischen 1873 und 1945 prägte. In einer von Brüchen geprägten Geschichte ist die Bundesrepublik ein beispielloser Ausdruck normativer Beständigkeit.

Der konservative Charakter des Rechtsstaats

In diesem Licht betrachtet, wird offenkundig: Der bundesdeutsche Rechtsstaat ist keine neutrale Plattform, sondern Ausdruck eines konservativen Grunddenkens, das tief in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankert ist – quer durch die Parteien und gesellschaftlichen Milieus. Es ist eine Konzeption, die auf Ordnung, Bindung an Normen, Legitimität durch Verfahren und Achtung vor gewachsenen Institutionen fußt. Der Rechtsstaat in seiner deutschen Prägung ist ein Bollwerk gegen ideologische Radikalisierung – gleich ob von rechts oder links – und eine Absage an gesellschaftliche Utopien, die den Bruch mit dem Bestehenden zum Prinzip erheben.
Ein Rechtsstaat ist per se nicht revolutionär, sondern evolutionär. Er sucht den Wandel nicht durch Zerstörung des Bestehenden, sondern durch Verfahren, Kompromisse und Verantwortungsbindung. In diesem Sinne ist er zutiefst konservativ – nicht parteipolitisch im engeren Sinne, sondern in einem geistigen Sinn: Er ist Ausdruck der Erkenntnis, dass das Mögliche dem Wünschbaren vorgeordnet ist, dass Legitimität nicht aus dem Willen zur Veränderung, sondern aus der Anerkennung der Begrenzung erwächst und dass das faktisch Gewachsene Normativität beanspruchen kann.

Die Institutionen der Bundesrepublik – von den Gerichten über die Verfassungsorgane bis hin zur Verwaltung – waren getragen von einem Ethos der Mäßigung, der Stabilisierung und des Schutzes vor ideologischer Überhitzung. Sie verhinderten nicht Wandel, aber sie kanalisierten ihn. Damit folgte die Bundesrepublik einem konservativen Staatsverständnis, das gerade nicht auf das schnelle Verwirklichen abstrakter Ideale abzielte, sondern auf das langfristige Erhalten konkreter Ordnungen.

Dieser Charakter des politischen Systems lässt sich ideengeschichtlich mit dem Konservatismusbegriff Sir Roger Scrutons beschreiben. Scruton definiert Konservatismus als eine politische Haltung, „die das Vorhandene bewahrt, weil es vorhanden ist, und weil es – durch die Prüfungen der Zeit – seine Bewährung gezeigt hat“. Dabei gehe es nicht um ein bloßes Festhalten am Alten, sondern um das tiefere Verständnis dafür, dass gesellschaftliche Institutionen und Traditionen „verkörperte Weisheit“ darstellen, die man nicht ohne schwerwiegende Folgen leichtfertig verändern sollte. In seinem Hauptwerk How to Be a Conservative (2014) schreibt Scruton:

„The conservative attitude is not a matter of defending privilege or resisting change. It is rather a recognition that good things are easily destroyed, but not easily created.“


Die Linke und der verlorene Auftrag zur Transformation

Demgegenüber steht eine politische Linke, die – in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – bis heute an einem Grunddogma festhält: der Vorstellung, dass Gerechtigkeit, Freiheit oder Gleichheit nur durch die grundlegende Überwindung der bestehenden Verhältnisse zu erreichen seien. Ob in Form sozialistischer Wirtschaftsvisionen, postnationaler Entgrenzungsideen oder identitätspolitischer Dekonstruktionsprojekte: Die Linke agiert vielfach im Horizont einer Gesellschaftsutopie, die das Bestehende nicht als entwicklungsfähig, sondern vor allem als überwindungswürdig betrachtet.

Doch in einem Staatswesen wie der Bundesrepublik, das in seinen rechtlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Grundlagen auf Stabilität durch Verfahren baut, ist ein solches Denken ein posthistorisches Relikt – eine intellektuelle Verstiegenheit, die sich an den realen Bedingungen des politischen Lebens zunehmend vorbei entwickelt hat. Wo politische Realität auf normativen Bestandsschutz ausgerichtet ist, wirkt das linke Transformationsversprechen nicht mehr visionär, sondern strukturell hilflos.

Denn der bundesdeutsche Rechtsstaat schützt nicht nur vor totalitärer Versuchung – er schützt auch vor den Konsequenzen einer Ideologie, die Wandel als moralische Pflicht, nicht als Ergebnis demokratischer Aushandlung begreift. In dieser Hinsicht agiert die politische Linke auf verlorenem Posten. Ihre Analysen mögen gelegentlich klarsichtig, ihre Motive mitunter sogar wahrhaftig sein – doch ihre politische Wirksamkeit bleibt marginal, solange sie das Fundament der Ordnung nicht vor allem weiterentwickeln möchte, sondern meist polemisch zu delegitimieren versucht.

Fazit: Die Bundesrepublik als konservatives Erfolgsprojekt


Die Bundesrepublik ist ein Erfolgsprojekt, weil sie konservativ ist – im Sinne einer Ordnung, die nicht versteinert, sondern bewahrt, was sich bewährt hat. Ihr Rechtsstaat ist die Lehre aus einer Geschichte des Unrechts – und er ist zugleich der Ausdruck einer Haltung, die das Vertrauen in Institutionen über das Vertrauen in Heilsversprechen stellt. Gerade deshalb hat er sich 76 Jahre lang als tragfähig erwiesen – in einer Zeit, in der politische Extreme, neue Radikalisierungen und gesellschaftliche Polarisierungen vielerorts die Fundamente demokratischer Ordnungen erschüttert haben.

Die politische Linke hat diesem konservativen Ethos wenig entgegenzusetzen, solange sie das Bestehende lediglich als Ausgangspunkt seiner Aufhebung versteht. Denn der bundesdeutsche Rechtsstaat ist nicht perfekt – aber er ist das Ergebnis einer historischen Einsicht: dass Freiheit nicht gegen Ordnung, sondern nur durch Ordnung gesichert werden kann.

Bis auf Weiteres scheint das politische Establishment diese Erkenntnisse nicht zur Leitlinie ihres Handelns machen zu wollen und verleitet große Teile der realitätsprägenden Öffentlichkeit insofern zu einem Erkenntnismangel.

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