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Zeit für Ohrfeigen

Weiß Gott, es besteht zurzeit reichlich Anlass zu politischer Polemik und zu einem vielstimmigen „J’accuse“, zu Zurückschimpfen und wahrhaftigen politischen Ordnungsrufen, ja Strafen. Leben wir doch in einem Zeitalter politischer Lügen, Täuschungen, Beleidigungen, Verleumdungen und vor allem in Zeiten eines politischen Analphabetismus‘. Aber: Wenn man halbwegs verantwortungsvoll nachdenken will, soll man zunächst einen Schritt zurücktreten und allzu schnelle Denkimpulse behutsam einer Kontrolle unterziehen. Es scheint mir das Ideal einer jeden Republik zu sein, in öffentlichen Angelegenheiten emotionale Intuition mit rationaler Vernunft zurückzudrängen oder zumindest abzusichern. Obwohl die menschlichen Erkenntnisse von den verheerenden Wirkungen kognitiver Verzerrungen geradezu immer schlagendere Beweise dafür erbringen, dass die Menschheit die versachlichende Assistenz künstlicher Intelligenzsysteme gut gebrauchen kann, scheint die Idee der gedanklichen Behutsamkeit und Selbstkontrolle nicht gerade in Mode zu sein.

Gerade unmittelbar vor einer verantwortungsvollen Wahlentscheidung, sollte man also über die einzelnen politischen Streitfragen hinwegblicken und nach den Orientierungen dahinter suchen – das nennt man Metapolitik. Tut man dies jedoch dieser Tage, stellt man erschrocken fest, dass es in der Politik solche sachpolitischen Einzelfragen gar nicht mehr zu geben scheint, sondern sich zumindest die schon bei der Jahrtausendwende vorhandenen Parteien offenbar hoffnungslos in metapolitische Denkfallen begeben haben, aus denen sie sich nicht mehr ohne die beherzte Hilfe des Wählers befreien können. Wo man auch hinsieht, Irrungen und Verwirrungen: Die Parteien, die sich „progressiv“ nennen stemmen sich gegen jede Veränderung, obwohl ihre Unterstützung durch den Souverän förmlich zusammengebrochen ist. Die als rückwärtsgewandt diskreditierten Konservativen wollen dagegen das Festgefahrene überwinden und in der Entwicklung voranschreiten. Als Konsens und Konstante in dieser metapolitischen Auseinandersetzung erscheint dabei jedoch ein feindseliges Lagerdenken, das mit moralistischer Inbrunst vorangetrieben wird: mein politischer Gegner irrt sich nicht etwa, sondern er entstammt dem Schlund der Hölle.

Politischer Moralismus im Parteienstaat ist aber sicher das exakte Gegenteil der Weltanschauung des Grundgesetzes, also der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Freiheitlich ist diese, weil sie den individuellen Zugriff des Menschen auf das Weltverständnis als Menschenwürdekern auch der politischen Freiheitsrechte unbedingt respektiert – und nicht etwa als potenziell moralisch verwerflich ansieht. Demokratisch ist diese Weltanschauung, weil sie letztlich immer, die nach inhaltlicher Auseinandersetzung getroffene Mehrheitsentscheidung als legitim zu übernehmen gebietet – und nicht etwa als im Zweifel aus moralistischen Gründen unverbindlich, weil „populistisch“, ansieht.

Wer nicht erkennt, dass das Ideal der Demokratie die kooperative Uneinigkeit ist und keineswegs die Einigkeit gegen Andersdenkende, wer nicht erkennt, dass die Opposition nicht bekämpft werden darf, sondern als kritischer Impulsgeber und Kooperationspartner geachtet werden muss und wer nicht erkennt, dass sich die politische Willensbildung  - wie es das Bundesverfassungsgericht schon vor knapp 60 Jahren unmissverständlich formuliert hat – „vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“ vollzieht, der hat die freiheitlich-demokratische Grundordnung längst zum bloßen eigenen Machterhalt überwunden. Durchaus erhellend ist es dabei, wenn die Täter dieses systematischen Verfassungsbruchs die Verwerflichkeit ihres Handelns selbst begrifflich kennzeichnen, indem sie nur noch von „Unseredemokratie“ schwafeln und diese von der echten Demokratie deutlich abgrenzen.

Die vorgezogene Bundestagswahl am Sonntag ist einerseits die greifbare Folge dieser beschriebenen Demokratiekrise und verspricht andererseits ganz im Gegenteil nachgerade ein Fest der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu werden: Der Souverän ist insgesamt demokratisch offenkundig viel gefestigter als das das Volk nachgerade verhetzende politische Establishment, wenn er die herrschende moralistische Linke im Bundestag offenbar heftig zusammenstreicht. In der Kindererziehung ist sie sicher nicht mehr legitim, aber in der politischen Willensbildung leider immer noch bitter notwendig: die schallende Ohrfeige. Weite Teile der etablierten Politik gehören vom Wähler mit ihr zumindest zum Nachsitzen auf die politische Schulbank geschickt – manch einer will sie sogar eine Zeit in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung zur politischen Rehabilitation sitzen sehen. Also bitte, lieber Wähler, lassen Sie es politisch krachen. Der politische Moralismus muss enden und der Uneinigkeit als politischer Aufgabenstellung für ein Weiterkommen wieder gehuldigt werden. Dieser Maßgabe unserer Verfassung sollten wir endlich wieder folgen.

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