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Zwischen Wahrheit und Krieg: Opferzahlen

In den letzten Tagen ist eine bemerkenswerte Verschärfung im internationalen Diskurs über die israelische Militärintervention im Gaza-Streifen zu beobachten. Organisationen, politische Akteure und sogenannte zivilgesellschaftliche Stimmen äußern sich zunehmend kategorisch zur angeblichen völkerrechtswidrigen Natur der Operationen, zur Missachtung humanitärer Standards und – besonders prägnant – zur Höhe ziviler Opferzahlen. Es ist diese Form sicher behaupteter Evidenz, die Anlass zu einem Zwischenruf gibt. Nicht, weil Kritik an militärischem Handeln in einer freiheitlichen Weltordnung unstatthaft wäre – sondern weil sie in weiten Teilen auf Voraussetzungen basiert, die epistemisch nicht haltbar sind und empirisch jeder belastbaren Grundlage entbehren.

Die Illusion der Gewissheit im Krieg

Die Überzeugung, man könne während eines laufenden Kriegsgeschehens präzise Angaben über Opferzahlen machen, ist ein Trugschluss, der sich durch die gesamte Kriegsgeschichte zieht. Moderne Kriegsführung in urbanem Raum, verbunden mit asymmetrischen Akteursverhältnissen, macht es faktisch unmöglich, valide und zeitnahe Angaben zu Todesopfern, insbesondere zur Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten, zu treffen. In der Kriegssituation selbst – das ist nicht eine bloße Redewendung, sondern historische Erfahrung – ist die Wahrheit stets das erste Opfer.
Doch auch jenseits der Phrase ergibt sich ein klarer Befund: Es hat bislang in keinem Krieg der Moderne einen einzigen Fall gegeben, in dem während der laufenden Kampfhandlungen verlässliche, systematisch gewonnene und repräsentative Daten zur humanitären Lage verfügbar gewesen wären. Das gilt für die NATO-Einsätze im Kosovo ebenso wie für den Irakkrieg, für das Vorgehen Russlands in der Ukraine wie für das amerikanische Engagement in Afghanistan. Es liegt in der Natur kriegerischer Auseinandersetzungen, dass sich Informationen fragmentarisch, interessengeleitet und strategisch gesteuert verbreiten. Wer dennoch vorgibt, über genaue Opferzahlen und deren rechtliche Bewertung schon während des Geschehens zu verfügen, ignoriert die grundlegenden Standards jeder methodisch sauberen Bewertung.

Das Beispiel Dresden

Ein besonders instruktives Beispiel für die langfristige Unzuverlässigkeit von Opferzahlen im Krieg bietet der alliierte Luftangriff auf Dresden im Februar 1945. Über Jahrzehnte hinweg kursierten weltweit Zahlen von 200.000 bis 300.000 Toten – gestützt auf frühe Schätzungen, die sowohl in der NS-Propaganda als auch in späteren politischen Deutungen ihren Zweck erfüllten. Erst die Historikerkommission der Stadt Dresden legte im Jahr 2004 nach jahrelanger Forschung einen belastbaren Bericht vor: Die Zahl der Todesopfer lag wahrscheinlich bei rund 25.000 – ein Bruchteil der ursprünglich behaupteten Größenordnung.

Diese Differenz ist keine Bagatelle. Sie ist Ausdruck der fundamentalen Unsicherheit von Kriegsdaten und zugleich ein Zeugnis der Langlebigkeit falscher Narrative. Die überhöhten Zahlen hatten ihre Wirkung längst entfaltet – moralisch, politisch, erinnerungskulturell. Und doch waren sie falsch. Wer heute also vermeintlich präzise Angaben übernimmt, die innerhalb weniger Minuten nach einem israelischen Luftschlag durch eine Organisation wie die Hamas – eine autoritäre, totalitäre, kriminelle Struktur ohne Pressefreiheit und unabhängige Zivilgesellschaft – kommuniziert werden, handelt in einer bemerkenswerten historischen Naivität oder mit politischer Absicht.

Die Hamas als Quelle? Methodisch ausgeschlossen

Die Hamas ist nicht irgendeine Konfliktpartei. Sie ist eine terroristische Organisation, deren gesamtes Handeln auf strategischer Täuschung, propagandistischer Aufrüstung und gezielter Desinformation basiert. Dass sie, nach jedem militärischen Zwischenfall, binnen Stunden detaillierte Opferstatistiken inklusive Alters- und Geschlechterverteilung veröffentlicht, wäre schon in einem funktionierenden Gesundheits- und Verwaltungswesen höchst unwahrscheinlich. In einem zerbombten, von Terrorherrschaft dominierten Gebiet ist es ausgeschlossen. Die einzige mögliche Schlussfolgerung lautet: Diese Zahlen sind erfunden. Sie sind als strategische Narrative konzipiert und nicht als Ausdruck tatsächlicher Beobachtung.
Daraus folgt ein scharfer methodischer Imperativ: Diese Daten dürfen in keiner rechtlichen, politischen oder ethischen Bewertung Berücksichtigung finden. Wer dies dennoch tut, übersieht, dass er sich der Argumentationsstruktur einer Organisation bedient, die selbst keinerlei rechtsstaatlichen Maßstäben genügt.

Vertrauen als Grundstruktur des Urteils

In einem solchen Umfeld bleibt allein die Rückbindung an den Charakter des handelnden Staates. Israel ist ein demokratischer Rechtsstaat mit pluralistischer Öffentlichkeit, freier Presse, unabhängiger Justiz und kritischer Zivilgesellschaft. Dass dieser Staat militärisch gegen eine Organisation wie die Hamas vorgeht, ist angesichts der Bedrohungslage evident legitim. Ob dabei im Einzelfall Fehler, Übergriffe oder völkerrechtliche Verstöße vorkommen – das kann und soll geprüft werden. Aber die Grundlage jeder Beurteilung kann nur ein strukturelles Vertrauen in die rechtsstaatliche Ordnung Israels sein. Der Beweis des Gegenteils ist selbstverständlich möglich, ja sogar notwendig, sofern er gelingt. Aber er muss auf objektiven, unabhängigen Untersuchungen beruhen – nicht auf Echtzeitdaten einer Mörderarmee.

Die Pflicht zur Redlichkeit

Kritik an Israel ist nicht tabu. Aber sie muss sich ihrer epistemischen Grundlagen bewusst sein. Wer behauptet, bereits jetzt wisse man über das Ausmaß und eine angebliche Unrechtmäßigkeit des israelischen Vorgehens im Gaza-Streifen Bescheid, argumentiert nicht analytisch – sondern agitatorisch. Er macht sich zum Erfüllungsgehilfen eines Informationskrieges, dessen Ziel es ist, moralische Gleichgewichte zu verschieben. Gegenüber diesem Ziel ist intellektuelle Redlichkeit unsere stärkste Verteidigung, die unbedingt einzufordern ist.

Um eine bisher eher als unsubstantiierte Phrase verwendete Formulierung mit etwas Inhalt zu füllen: Ein sehr ausführlicher Vertrauensvorschuss in die demokratische Rechtsstaatlichkeit Israels auch mit Bezug auf die Pflichten des humanitären Völkerrechts muss Teil der Staatsraison des Westens und besonders Deutschlands bleiben.

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